Verkopft

28. April 2014

Ich bin gerade mit einer Gruppe von Leuten unterwegs, da heißt es immer mal: Das ist mir zu verkopft.

Meine erste Reaktion darauf ist oft innere Ablehnung. Ich bin stolz auf meinen Kopf. Mein Kopf ist meine feste Burg. Sprache ist meine Heimat. Mein Lieblingswitz geht so. Ich war mal richtig gut im Lösen von hyperkomplexen Differentialgleichungen. Und wenn dann jemand sagt: Das ist mir zu verkopft – dann höre ich an schlechten Tagen: Du bist falsch und ich bin richtig, du darfst nicht kopfen. Nur Mystik, Körpererfahrung, Schamanismus und Kreistänze sind das Wahre. Und ich fühle mich schwach und nackt ohne meinen Kopf. Er gibt mir Sicherheit.

An guten Tagen fallen mir meine eigenen Kopfgrenzen ein, wie ich damals das Lebesgue-Integral nicht begriffen habe, der Frust eine Schachposition oder einen Quelltext nicht zu überblicken. Und mir fallen Leute ein, die wunderbare Menschen sind, obwohl sie keine Sätze verstehen in denen ein Genitiv vorkommt, für die Prozentrechnung ein Buch mit 7 Siegeln ist. Dann höre ich: Das ist mir zu verkopft. Ich kann dich so nicht verstehen, lass uns nach einem anderen Weg suchen, in Verbindung zu gelangen.


System der Bedürfnisse

20. November 2013

Wir saßen so zusammen und erarbeiteten ein System der Bedürfnisse mit einem Kartenspiel aus der Mut-Fabrik:

system

Ja klar, in der Mitte war was mit Liebe und so. Spannend war die Klammer aus Chaos und Ordnung. Noch spannender der Abfallhaufen von Bedürfnissen, die für uns nicht wichtig waren: Trauer, Inklusion, Nachhaltigkeit, Frieden und Freiheit – abgesehen von der Trauer so vernünftige Kopfgeburten ohne emotionale Relevanz. Ganz passend dazu so ein Zitat aus einem GEO-Text:

Der Klimawandel ist damit alles Mögliche, nur eines nicht: Emotional. „Un-emotional“ aber übersetzt unser Unbewusstes automatisch in „unwichtig“. Und weil das so ist, treffen wir die riskanteste aller Entscheidungen – nämlich die, so gut wie gar nichts zu unternehmen.


Vater unser im Himmel!

21. Juli 2013

Geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.

Denn dein ist das Reich und die Kraft
und die Herrlichkeit in Ewigkeit.

Amen. Den Rest des Beitrags lesen »


Nothing really matters

1. Mai 2012

Madonna – Nothing really matters

When I was very young
Nothing really mattered to me
But making myself happy
I was the only one

Now that I am grown
Everything’s changed
I’ll never be the same
Because of you

Nothing really matters
Love is all we need
Everything I give you
All comes back to me

Igitt, schnöde Popmusik. Auch noch von Madonna. Aber der Text ist so schmalzig wie stimmig. Und ich finde mich in diesem Lied wieder.


Empathische Halluzinationen

8. November 2011

Stoned von einem GfK-Seminar in der Menge eines vollen Hauptbahnhofs. Das Hirn durch allerlei Dialogübungen und intensive Gespräche im empathischen Ausnahmezustand. Dazu gab es vorher noch Hegel mit seinem: „Das Wahre ist das Ganze, der Widerspruch.“

Plötzlich war ich von der Vorstellung durchflutet, dass ich mich nicht wie eine Billardkugel, Teilchen oder Einzelsubjekt durch die Menschenmenge bewegte sondern ich sah beziehungsweise spürte ein zusammengesetztes Feld aus Einzelschwingungen.   So etwas wie Welle-Teilchen-Dualismus: Wolfsteilchenmodus – klare Grenzen, wahre und falsche Urteile, getrennte Einzelmenschen. Giraffenwellenmodus – empathische Überlagerung von Feldern, unmöglich den Einzelnen ohne die anderen zu denken.

Es gab ein physisch spürbares Umschalten zwischen zwei Zuständen: dieser ungewöhnliche Zustand der dialektischen Selbstaufhebung in der Menge und die ganz prosaische Einzelsubjektwerdung, wenn ich an einem Imbissstand überlegte, ob ich wohl was essen sollte. Aber ich war so berauscht von meinen Selbstauflösungswahrnehmungen, dass sich es verzog, weiter in/mit der Menge zu schwingen. Verstörend angenehm das Ganze.

Mit etwas Abstand stelle ich mir die Sache so vor. Ähnlich wie nach der GfK-Freizeit war der Bewertungsautomatismus zwischenzeitlich ausgeschaltet. Und ich war eine Weile tatsächlich in der Lage die Menschen um mich herum mit zärtlichem Interesse nur anzuschauen – ohne sie sofort in Schubladen zu packen.


Das weiße Band & Chocolat

10. Oktober 2011

Am 3. Oktober gab es das Weiße Band, gestern Chocolat:

In beiden eine Welt aus Wolfssprache und Gewalt, gemauert aus festen Urteilen über richtig und falsch. Im ersten Film bleibt alles grau, steuert auf  Krieg und Auschwitz zu. Der zweite Film träumt von den Möglichkeiten der Empathie. Und er spart nicht aus, dass es auch schief gehen kann. Wer sich Empathie-GfK-CB-Dialog auf die Fahnen geschrieben hat, gehört vielleicht zu den Guten (wenn es so was wie die Guten überhaupt gibt), aber nicht automatisch zu den Erfolgreichen. Ein Scheitern ist möglich.

Ach ja, diese Differenziertheit sprach mich mehr an als mancher Zen-Holzhammer-Spruch.


Spiegelneuronen 2

14. September 2011

Wenn mein Bedürfnisbefriedigungslevel nicht gerade im Keller ist, dann laufe ich manchmal durch die Stadt. Und wenn da jemand lächelt oder einigermaßen versonnen guckt, dann sehe ich mir diesen Menschen genau an. Dann lausche ich meinen Spiegelneuronen und freue mich mit diesem Menschen. Wenn er es merkt, gibt es sogar Resonanz. Und wenn da jemand sorgenvoll die Mundwinkel nach unten zieht, dann gucke ich weg. Nach einer Weile habe ich mir eine kleine euphorische Glückseligkeit angespiegelt.

Und wenn ich dann wieder meinem normalen Tagwerk nachgehe, gibt es manchmal einen Kater, so wie wenn ich mir die Welt schön gesoffen hatte. Und das ist in Ordnung. Schließlich war ja wohl diese emotionale Resonanz für die 30-köpfige Horde in der Savanne gedacht. Und die Gefühle sollen Indikatoren für befriedigte oder unbefriedigte Bedürfnisse sein und keine Befindlichkeitsstellschrauben, die ich mit Psychotricks manipuliere.


Spiegelneuronen 1

14. September 2011

Die Ausstellung zum World Press Photo Award 2011 auf dem Bahnhof in Halle. Eine Frau mit abgeschnittener Nase. Sportler. Leichenberge aus Mexiko, Haiti und Tibet, AIDS, tödliche Loveparade, dann noch ein paar nette Tierbilder und Iren, die sich für einen Jahrmarkt rausgeputzt haben. Erdbebenopfer. Das ganze in hyperrealistischer Fotoqualität. Das Auge kann/muss länger als im Fernsehen verweilen – auch keine Unterbrechungen durch Journalisten mit ihrer künstlichen Betroffenheitslarve.

Mein erster Impuls: „Das ist ganz schön anstrengend.“ Verwirrung. Tränen.

Und nach einer halben Stunde noch ein Besuch. Es sind nicht die Leichenberge, die mich am meisten bewegen, die muss der Verstand erst interpretieren, muss das Massengrab mit nackten Leichen erst von einem Badestrand unterscheiden. Es sind nicht die Erdbebenruinen, denen der Verstand erst die Katastrophe zuordnen muss. Und auch ein abgetrennter Kopf ruft zuallerst Erstaunen hervor und dann erst Grauen oder Ekel.

Es sind die Gesichter der Erdbebenopfer, die ihre Angst, ihr Entsetzen direkt ohne Interpretation, ohne Umwege direkt in mein Gemüt übertragen. Oder auch die Emotionen der Kinozuschauer.


Kohärenz

14. Januar 2011

Dann habe ich noch auf den Bodenankern darüber gegrübelt, wie das mit meinem Kloß im Hals und der auf steigenden Wut in meinem Bauch ist, wenn da jemand in lockerer Runde Sprüche klopft, die nicht in mein antirassistisches/antisexistisches/antiimperialistisches/antinationalistisches/antitralala Weltbild passen. Und da meinte doch eine, ich darf schon Eins-sein wollen – mein schönes Lieblingsbedürfnis Koheränz.
Und tatsächlich, mit diesem Bedürfnis an der Seite, ließ es sich trefflich mit meiner rassistischen Verwandschaft über Sarrazin streiten. In mir war keine Wut mehr, nicht mehr der glaubenssatzgetriebene Missionarseifer „Ich muss diese armen Irren retten, weil ich es besser weiß!“ In freundlicher Kampfeslust konnte ich meine Schläge austeilen wie Terence Hill und Bud Spencer, da war nichts von der kalten Aggression, dem Pathos einer Uma Thurman.


Sinnfreiheit

27. Oktober 2010

Geradezu beschwingt und euphorisch bin ich gestern von Kreuzberg nach Friedrichshain gelaufen, nach einer Aufführung von Karl Kraus‘ „Die letzten Tage der Menschheit.

Da müssen ja wohl irgendwelche Bedürfnisse erfüllt gewesen sein. Und in meinem Kopf kreiselte der Satz „Es geht auch ohne Sinn.“

Mir fiel mein Ringen auf den ersten GfK-Seminaren um (gegen?) das Dogma, der allen Menschen gemeinsamen Bedürfnisse ein. Und wie ich Felix um wissenschaftliche Texte bat. Ich habe die Sachen überflogen. Die Methode, diese gemeinsamen Bedürfnisse herauszukristallisieren, war die Befragung. Aber ob das eine unfehlbare Methode ist, dem Menschen ein Grundbedürfnis nach Sinn bzw. Spiritualität zuzuschreiben?

Auf jeden Fall war war ich an diesem Abend voll Klarheit und Kohärenz. Ein freundlicher ethischer Nihilismus erlaubte mir ein kurzes Erleben eines integrierten Ichs.